Dirk Diedrich

Sozialdemokrat

Ein Buch über den Krieg

Die verlorenen Kinder des Krieges“,

das ist der Titel des Buches welches ich hier immer dann schreiben werde, online quasi, wenn ich Zeit habe. Um was geht es? Der tiefere Sinn ist für mich Trauerbewältigung. Die Frage warum war meine Mutter so, wie sie war? Ein Opfer der „Kinderlandverschickung“. Sozialisiert zwischen Ziegen und Stroh im schwäbischen Bodenseeraum. Warum ich das mache? Ich hab es meiner Mutter am Sterbebett versprochen.

Sie sagte: „Schreib‘ meine Geschichte auf!“, und daran halte ich mich. Hier auf meiner Homepage ist es ein wenig einfacher. Klar, ich könnte mir auch ein Jahr Urlaub nehmen und mich mit ein paar Kisten Bourbon in die kanadische Wildnis verdrücken. Dafür hab ich keine Zeit und kein Geld. Dieses System ist immer und überall greifbar, darum so! Ach, und warum lasse ich euch mitlesen? Gegenfrage: Warum nicht? Also fang ich mal an.

Ach, in eigener Sache. Ich schreibe einfach so von der Hand weg. Inklusive Tipp- und Schreibfehler. Berichtigungsvorschläge gern an mich senden. 🙂 Auch was einige Angaben angeht, muss ich noch in meinen Unterlagen rumsuchen. Namen, die von mir genannt werden, sind rein zufällig ausgewählt. Nur die Personen, die im Zentrum dieser teils fiktiven Geschichte stehen, sind mit ihrem Klarnamen benannt.

Vorwort

In diesem Moment, in dem sie dieses Buch in die Hand nehmen, nimmt irgendwo auf der Welt ein Kämpfer seine Waffe in die Hand um andere Menschen zu töten. Er wird sich von Frau und Kind verabschieden, ohne zu wissen ob er seine Familie wieder sehen wird. Quasi so, wie andere Väter ihre Brotdose nehmen oder ihre Aktentasche, so nimmt er Helm und Waffe, ehe er das Heim verlässt. Er nimmt die Verantwortung des Kämpfens an, aber lässt seine Familie alleine zurück.

Die Welt ist voll mit Kindern, die ihre Väter im Kampf verloren haben. Diese Kinder haben nie auf Knien gesessen und ihrem Vater den Bart gekrault. Nie haben sie Papierschiffe mit ihrem Vater gebastelt oder einen Drachen steigen lassen. Diese Kinder haben ihr erstes Fahrrad selbst geputzt und die Schachpartie, die zeigen sollte wer der wirkliche Denker und Chef im Haus ist, wird immer ungespielt bleiben. Ich denke, dass viele Kinder, die Opfer der Kriege wurden, sich früher oder später eine dieser Fragen stellen oder vor solchen Situationen stehen. Es liegt in der Natur der Dinge. Der Mensch entsteht aus zwei Menschen und will die Frage „Wer bin ich?“ von beiden Elternteilen beantwortet wissen. Besonders bizarr war in zurzeit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Frage danach zu klären, warum der eigene Vater gestern noch ein Held und am nächsten Tag ein Verbrecher war.

Erstes Kapitel

Neues von Feldpostnummer 49523A

Irgendwo in Russland, die stickige Luft im Gefechtsstand der Flakstellung erschwerte das Atmen. Der Staub aus dem kargen Boden, den das bolschewistische Geschützfeuer aufwühlte, fraß sich in die Lungen. Unter einer Decke gekauert fummelte Fritz mit seinem Offiziersmesser an einem Bleistiftstumpf herum, um diesen Rest noch ein wenig spitz zu formen, damit er endlich die Karte an Grete, seine geliebte Frau, weiter schreiben konnte, die er vor dem letzten Verlegen seiner Einheit, einer 8.8 Batterie vor zwei Tagen angefangen zu schreiben hatte. Die 8.8 Batterie war Teil der 32. Infanteriedivision, die sich auch „rheinisch westfälische“ nannte. Er war Stolz auf seine Einheit, stolz endlich zum Stab zu gehören. Die 8.8 war für ihn die Wunderwaffe der stolzen deutschen Wehrmacht. Kein anderes Flakgeschütz war so durchschlagkräftig wie dieses. In den 1920ern von Krupp unter den Zwängen des Versailler Vertrages entwickelt, war sie das Optimum an Beweglichkeit, Reichweite und Zielgenauigkeit. Keine Armee der Welt hatte etwas Vergleichbares zu bieten. Die Deutschen Truppen nutzten sie in Russland aber vorzugsweise als Panzerknacker. Fritz war jedenfalls so begeistert von der 8.8, dass er von der berittenen Einheit (Die ersten Kriegsjahre diente er im 186. Füselierregiment, also der Kavallerie) zur Infanterie wechselte nach dem Ausbruch des Krieges.

Seine Gedanken kreisten um zuhause. Wenn er die Augen schloss, dann wusste er sofort wie es zwischen Heimelsberg und Rheinischem Esel auf den Feldern und im Wald um Bochum Langendreer roch. Die Forsythien duften im Frühling immer so herrlich. Oder der Pfingstausflug mit Grete, seiner geliebten Frau, wenn die Bauern das erste Heu machen und die Wiesen frisch gemäht waren. Reine Einbildung, denn außer Waffenöl und Schwarzpulver hatte er seit Monaten nichts anderes mehr gerochen. Nicht mal das Brot, das es täglich gab, roch nach irgendetwas anderem außer Öl.

Wieder drifteten Fritz‘ Gedanken zu Grete. Seit seiner Verwundung vor ein paar Monaten hatte er Grete und die Kinder nicht mehr gesehen. Während er gedankenverloren den Stift in den Fingern drehte, um sich den knappen Platz auf der Karte in Gedanken zu recht zu legen, schweifte er nach Hause. Raus aus dem Dreck hier, auch raus aus ihrer Wohnung in Bochum, hin zu seinen Eltern, seiner Schwester, heim in das beschauliche Grüner Tal bei Iserlohn, wo die alte Wassermühle unermüdlich lief und die beruhigende Geräuschkulisse lieferte, die ihm jetzt fehlte, um seine Gedanken zu sortieren.

Die „Grüne“, wie sie alle in der Familie sein Elternhaus nannten ist ein altes Fachwerkhaus, welches vermutlich schon seit vielen hundert Jahren in dem langgezogenen Tal zwischen Iserlohn und Ihmert irgendwo im nichts steht. Eine Wassermühle die eine Transmission antreibt, eine Schleiferei und eine Gießerei sind im Laufe der letzten 50 Jahre gewachsen. Im unteren Grüner Tal wurde schon seit Urzeiten Galmei abgebaut, warum also nicht im Grüner Tal Messing verarbeiten? Die Straße, die an seinem Elternhaus vorbei führte war gerade breit genug für ein Pferdegespann. Hier kam nur einer vorbei, wenn er wirklich etwas wollte. Das war zum Glück nicht oft. Es war trotz des geschäftigen Treibens der Gesellen der ruhigste und friedvollste Ort in Fritzens Leben.

Ein Mann wie ein Bär, groß gewachsen und doch so zerbrechlich. Fritz war der älteste Sohn seines Vaters, der in den heutigen Niederlanden in der Gauverwaltung arbeitete. Von strenger Hand erzogen, hatte er doch auch weiche Züge.

Margret, seine älteste Tochter, sollte schon bald in seinem Elternhaus in „der Grüne“ sein, jedenfalls hatte sein Vater ihm das in dem letzten Brief aus Holland zugesichert. „Zum Glück wäre die Kleine dann sicher“, dachte er bei sich. Aber wann würde er endlich Nachricht erhalten, dass es auch mit der „Kinderlandverschickung“ und mit Gretes Kur losgeht?

Zum Glück organisierte die NSV das Programm der Kinderlandverschickung. Wobei, es war eingentlich eine Mutter und Kind Verschickung. Der NSV (Nationalsozialistische Volksfürsorge) organisiert diese Verschickung aus Krisengebieten um nichtschulpflichtige Kinder und deren Mütter zu schützen. „Gut, dass nicht nur die schulpflichtigen Kinder dem Führer wichtig sind. Da hatte Bormann mal ne gute Idee“, dachte Fritz. Die übliche Verschickung in Lager in wenig besiedelten Regionen hatte mit der Verschickung von nicht schulpflichtigen Kindern nichts zu tun.

Schließlich hatte er noch mehr Kinder um die er sich sorgte. Die örtliche Verwaltung lief mittlerweile nur noch auf Sparflamme. Es schien als wenn immer mehr Männer an die Front kamen und die Amtsstuben verlassen mussten. Vorwärts sollte es gehen, jeden Tag vorwärts. Doch mit jedem Tag, an dem seine Divison weiter vorrücken sollte, rückten seine Gedanken weiter nach Hause. Vorwärts ging es schon lange nicht mehr. Halbwegs geordnet rückwärts, so ließ sich die Situation viel besser beschrieben. Noch vor einem Jahr lagen sie mitten in den Pripjet-Sümpfen und versuchten Richtung Moskau vorzustoßen.

Dieser verdammte Krieg. Es sollte alles so schnell gehen. Russland war leicht zu überrennen hatten die Generäle damals gesagt. „Wenn die Verteidigungslinien erst einmal durchbrochen sind, dann schwindet die Lust der Bolschewiken sich auf einen Kampf einzulassen.“ Alles Gerede, dachte er nun. Es beschlichen ihn Zweifel, ob das alles so richtig war was er hier tat. Dabei waren in der Familie doch alle gestandene Nationalsozialisten. Die Macht des Volkes faszinierte ihn schon früh. Endlich waren sie keine „Hinterwäldler“ aus dem Tal, sondern sie waren im Ort angesehen. Menschen grüßten freundlich oder standen stramm. Dabei war die Familie vor wenigen Jahren noch eine, die den Wandel der 1920er Jahre nicht richtig überlebte. Die Firma, ein Opfer der Bankenkrise, das Land reichte nicht zum Broterwerb, sondern nur zur Selbstversorgung. Doch seit die NSDAP an der Macht war, war es nicht mehr wichtig wie viel Geld und Einfluss man hatte, denn es kam auf gute deutsche Tugenden an. Ehrlichkeit, Treue und Vaterlandsliebe.

Abermals legte er sich gedanklich die Worte zurecht als er von draußen ein leises Grollen am Himmel vernahm. Hastig knüllte er die leere Karte in die Brusttasche und steckte schleunigst den Bleistift dazu, der im abermals in der Hektik abbrach. Seine belegte Stimme schrie laut, während er die Zeltplane aufriss. „Alles abdecken! Meldung! Was ist das für ein Flugzeug?“ Im Baum hatte sich sein Adjutant geistesgegenwärtig ein Bild gemacht. Den Feldstecher am Auge spähte er in Richtung Front, doch von dort konnte der Lärm nicht kommen. Wenige Momente später rollte, aus Westen kommend, eine Rotte Stuka über sie hinweg. Im Tiefflug mit schweren Bordkanonen unter den Tragflächen. Fritz erinnerte sich an die ersten Monate des Krieges als er zum letzten mal Stuka zur Unterstützung gesehen hatte. Die flogen hoch oben, um die feindlichen Linien aufzubrechen mit ihren punktgenauen Bomben. Danach war die dann die Artillerie am Zuge und schoss die Gegend mürbe.

„Warum jetzt Kanonen unter den Tragflächen?“ schoss es ihm durch den Kopf. Und die Erkenntnis um den Sachverhalt konnte man ihm im Gesicht ablesen. Stukas gegen die russische Artillerie einzusetzen wäre in der Tat grober Schwachsinn, zumal die Stukas in dieser Höhe eine leichte Beute für das Sperrfeuer der Russen wären. Diese Kriegsveteranen waren im Horizontalflug so langsam, dass man ihnen bequem im Vorbeiflug das ganze Flugzeug umlackieren konnte. Es gab nur eine einzige Möglichkeit die blieb – Panzer! Die Russen müssen mit Panzern auf die Frontline drücken. Reflexartig schickte er Krome, dem Melder der Batterie, mit seinem Krad, einer alten Zündapp 600, zum Leitstand des Stabs. Er war wahrscheinlich der irrsinnigste Kradmelder, den die 36. „Rheinisch-Westfälische“ Infanteriedivision gesehen hatte. Es war anzunehmen, dass das vom Training in den engen Tälern des Sauerlandes kam. Nun hieß es warten bis Krome mit Neuigkeiten wieder käme.

Zwei Mann der Einheit bildeten einen vorgezogenen Posten an einer kleinen Anhöhe, um das Gelände zu überwachen. Entsetzlich war diese Ungewissheit. Seit Monaten war das Funkgerät ausgefallen und kein vernünftiger Kontakt mehr möglich. Nur schleppend lief der Nachschub seit einigen Wochen nach dem langen und strengen Winter wieder an. Hier, fernab aller Zivilisation war nichts außer weite Steppe. Hin und wieder mal ein Baum, der den Geschützen ein wenig Schutz vor den russischen Aufklärern bot. Die Sonne brannte unerbittlich auf den Boden in diesem fremden Land. „Was mach ich hier?“ war eine Frage, die sich Fritz schon oft gestellt hatte. Letztlich kannte er die Antwort. Die deutsche Rasse hat die absolute Berechtigung sich neuen Lebensraum zu erschließen. Nach der großen Krise war die Firma zuhause so gut wie Pleite; nicht in der Lage die große Familie zu ernähren. Die Maschinerie der neuen Machthaber bot ihm Arbeit und gab ihm die Möglichkeit die Familie zu ernähren. Von den Schwiegereltern war nichts zu erwarten. Die große Schlachterei in Wuppertal Elberfeld war auch in der großen Krise Ende der 1920er Jahre buchstäblich über die ‚Wupper‘ gegangen. Gretes Eltern haben das irgendwie nicht verkraftet, und sie war Vollwaise seitdem. Was hatte Fritz noch außer seinem Leben und seiner Ehre, die er irgendwem geben konnte. Also tat Fritz das Einzige was ihm noch blieb, er diente treu. Dabei ist es nicht hilfreich, wenn man von Heimweh und Zweifeln zerfressen ist.

Fritz tat das, was er in den letzten Jahren gelernt hatte – ein treuer deutscher Soldat zu sein – er blendete alle Zweifel und Gefühle aus und funktionierte in diesem staubigen und schmutzigen Krieg, den er doch eigentlich nicht wollte.

Er klopfte sich den Staub aus der Mütze, als er in der ersten Dämmerung das Zelt betrat. Sein Gesicht wirkte müde und mit einem nicht überhörbaren Geräusch fiel er rücklings auf sein Lager. In Sekunden war er eingeschlafen. Seine Träume wühlten und schüttelten ihn. Die Angst vor der Zukunft war am Tage erfolgreich verdrängt, aber nachts, wenn alles still war, dann schlichen die Dämonen der toten Menschen der letzten Jahre um sein Bett und fesselten alle negative Energie in ihm, sodass er wieder einmal schweißnass erwachte. Er fummelte aufgeregt nach der Feldflasche und nahm einen tiefen Schluck kalten Tee, der beruhigend langsam seine Kehle hinunter rann. „Grete“, dachte er bei sich, „ach, verdammt die Karte“. Dann nestelte er im Hinsetzen aus der einen Tasche ein Feuerzeug für die Petroleumlampe hervor, während die andere Hand nach dem Bleistift fischte. Die zittrigen Finger schoben den Bleistift zwischen seine Lippen, damit er eine Hand frei hatte um die verchromte Kappe seines Benzinfeuerzeugs zu entfernen. Wieder waren seine Gedanken daheim. Bei Margret, die ihm vor zwei Jahren das Feuerzeug zu Weihnachten voller Stolz unter dem spärlichen Tannenbaum in der Oberstraße in Langendreer gelegt hatte. Er sah noch genau ihre leuchtenden Augen. Ob er jemals von Gisela ein Geschenk erhalten würde, schoss es ihm durch den Kopf. Was, wenn die Jungs erst vier und fünf sind? Werden sie dann auch an Weihnachten vor ihm stehen und mit leuchtenden Augen ein Geschenk für ihren Vater haben? Noch lag Hartmut quasi im Kindsbett, er war der Jüngste. Seit seiner freiwilligen Verlegung an die Ostfront war Fritz nicht mehr in der Heimat gewesen. Dennoch dachte er permanent an seine Kinder. Eine Familie wollte er, doch hatte er nichts davon. Gisela war noch zu klein Weihnachten 1938. Ein Jahr später war er schon im Feld in Frankreich. Gedanken über Gedanken peitschten durch seinen Kopf, während die alte Petroleumlampe das Zelt langsam in ein fahles Licht tauchte. Er nahm sein Schreibutensil zwischen den Lippen hervor und starrte dieses Stück Holz an, als wäre vor seinen Augen die heilige Jungfrau Maria von einem russischen T-34 Panzer überfahren worden. „Verdammt, abgebrochen“, fluchte Fritz.

Zweites Kapitel

Bohnensuppe und Fahrkarten

Der Krieg kam mit den alliierten Bombern nun auch nach und nach ins Heimatland. Tief ins Hinterland stießen vereinzelnd die Bomberverbände vor. Eine Sache, die Grete nie erwartet hätte. Fritz sagte immer, dass der Engländer nie Bomben auf Deutschland werfen würde, nachdem Frankreich niedergerungen war. „Das trauen die Tommies sich gar nicht“, sagte Fritz damals. Doch immer häufiger flogen englische Aufklärer selbst am Tage hoch über der Stadt, und nachts heulten die Sirenen. Erst waren es nur spezielle Ziele, wie zum Beispiel die Talsperren oder die Industrieanlagen des Ruhrgebietes. Doch immer öfter musste Grete nachts die Jungs und die Mädels zusammen einpacken und gemeinsam Schutz zu suchen. Zum neuen Hochbunker an den Langenstuken brauchte sie sich gar nicht aufzumachen, denn der lag dicht bei den Bahnschienen und viel zu weit entfernt. Bei Fliegeralarm war also nur der nächste Keller der Beste, denn zehn Minuten Fußmarsch sind zehn Minuten ohne Deckung. Es reichte schon, wenn einige Spritzer flüssigen Phosphors die Kleidung trafen, sodass man jämmerlich verbrannte.

Wer hätte das gedacht? Der Krieg war in Deutschland. Nicht an der Front, nicht in Russland oder Afrika weit weg, sondern mitten in Deutschland. Grete beschloss zu den Schwiegereltern nach Holland zu fahren, um dort mit der Familie zu besprechen wie es weiter gehen soll. Ihr Schwiegervater war dort in einer undurchsichtigen Mission unterwegs. Keiner aus der Familie sprach gerne darüber, aber er war in der Partei wichtig genug, sodass er Grete in ihrem Elend helfen konnte, ja musste.

Samstags morgens um fünf machte Grete sich mit den Kindern auf in Richtung Holland. Zugfahren zu fünft in der dritten Klasse, sieben Stunden Fahrt, dachte Grete, das kann ja heiter werden. Doch am Bahnsteig angekommen, wartete sie vergeblich auf das pfeifende Geräusch des einfahrenden D-Zuges in Richtung Venlo. Statt vielen Reisenden tummelten sich die Schwestern der Bahnhofsmission auf dem Bahnsteig herum und verteilten Becher mit Früchtetee an die Wartenden. Margret schob die Karre mit Trutzhart und Grete hatte Gisela an der Hand und Hartmut auf dem Arm. Der Zug scheint ja wohl Verspätung zu haben, dachte Grete. Und richtig, eine Stunde später klang das pfeifende Geräusch der einfahrenden 03 endlich auf der Kurve vor dem Bahnhof. Grete hastete mit den Kindern ins Coupé und nahm erschöpft Platz. Irgendwie fühlte die Reise sich mühsam an, ehe sie richtig begonnen hatte.

Der D-Zug verließ schnaufend den Bahnhof, der an diesem Sommermorgen friedlicher wirkte als sonst. Sicher, es war Samstag, also waren auch nicht so viele Menschen unterwegs, aber irgendwie wirkte es doch gespenstisch, diese Ruhe. Langsam zog der Zug um die Kurve und Gretes Blick schweifte über die Stadt. Rauchschwaden zogen aus den Häusern. Es brannten noch die Feuer der vergangenen Bombennacht. Grete fluchte in sich hinein. Mein Mann ist in Russland und die Engländer bombardieren unsere Heimat in Grund und Boden. Warum ist er nicht zuhause, da wo er gebraucht wird? Was soll dieser komische Krieg noch? Sollen die Engländer nicht vor drei Jahren schon vernichtend geschlagen sein? Dafür, dass die deutsche Luftwaffe angeblich so erfolgreich war, waren die britischen Bomber aber quicklebendig. Grete stellte gerade alles in Frage. Nichts passte mehr zusammen. Die 03 biss sich schnaufend eine enge Kurve hoch und Grete träumte, während sie aus dem Fenster schaute mit offenen Augen. Strahlender Sonnenschein keine Wolke dachte sie. Es war kurz nach neun, gleichmäßig hämmerte der Kurbeltrieb der schnaufenden Lok. Am westlichen Himmel blitzte es kurz hintereinander mehrfach auf. Grete fixierte das Blitzen, das sie ein wenig an Sylvester erinnerte.

Tief in Gedanken, wie hypnotisiert starrte sie auf die vielen blinkenden glitzernden Punkte am Himmel, bis sie das Quietschen der Bremse des Zuges aus ihrem Tagtraum riss. Der Zug legte eine Vollbremsung hin, die alle Habe und Kinder entgegen der Sitzrichtung nach vorne zog. Zum Glück konnte Margret sich selber halten, sodass ihr Griff nur Gisela galt, die verschlafen ihre Augen aufriss, als ihre Mutter sie an ihrem Sommerkleid zerrte. Schreie hallten über das Gleisbett. „Verdammt, mach den Scheißkessel aus du Vollidiot“, schrie einer von vorne. Mittlerweile war der Zug in einem Waldstück zum Stehen gekommen. Blitzartig wurde Grete klar, was das hübsche Blinken am Himmel war. Es waren Bomber. Feindliche Bomber. Das Flugzeugaluminium der De Havilland Mosquitos, die zur Zielmarkierung eingesetzt wurden, glänzte in der Morgensonne. Margret warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu, doch ehe Grete Antwort geben konnte riss der Schaffner die Abteiltür auf und schrie: „Raus, alle sofort raus.“

Nach einiger Hektik fanden die fünf sich auf ihrer Habe kauernd ein paar hundert Meter entfernt vom Zug wieder. Die Stille wurde nur von vereinzelnden Rufen und von Kindergeschrei durchbrochen. Am Himmel das tiefe Brummen der Flugzeugmotoren. Die Zeit verstrich, und es passierte nichts. Doch es war auch Zeit zum Nachdenken für Grete. Sie hatte lange keine Post mehr von Fritz bekommen. Wie es dem Vater ihrer Kinder wohl im Osten erging. Lebte er noch? Immerhin war er mittlerweile in leitender Stellung, viel Verantwortung für viele Männer und für viel Material. In solchen Momenten spielten sich gruselige Szenen in Gretes Kopf ab. Was für Elend ihr geliebter Mann sehen musste, und vor allem wie viel Elend er selber über die Menschen in Russland brachte. Nun, die Bolschewisten haben es ja nicht anders verdient. Die haben genug Land. Und wir haben ein Anrecht auf dem Lebensraum Ost. Verträumt dachte sie an Fritz. Sie hatte Angst. Panische Angst. Wenn er doch nur da wäre um sie in den Arm zu nehmen. Seltene Berührungen in einer komischen Ehe. Eine Gänsehaut breitete sich aus, als sie an seine Berührungen auf ihrer Haut dachte. Hände, die Leichen schleppen und den Geruch des Todes an sich tragen. Nein, wahrlich es ist nicht einfach einen Soldaten zu lieben.

Mittlerweile war es mittags geworden, die Kinder waren allesamt müde eingeschlafen. Der Schaffner näherte sich mit rußverschmiertem Gesicht von der Spitze des Zuges, und bat die Wartenden in ihre Abteile zurückzukehren, damit der Zug seine Reise fortsetzen könne – Erleichterung machte sich breit. Grete weckte behutsam die Liebsten und sie bestiegen den Zug. Nach kurzem Warten deutete mehrfaches Ruckeln die Weiterreise an.

Der Halt in Venlo dauerte schon viel zu lange. Doch der Krieg machte geduldig. Grete wartete also einfach ab was passieren würde, ohne sich großartig Gedanken über die momentane Situation zu machen. Sie war schon lange nicht mehr der Meinung, dass es etwas nützte etwas zu wollen. Man ließ das Leben einfach nur noch „geschehen“. Gelegentlich ruckelte der Zug, aber sonst passierte nicht wirklich viel. Dann kam der Schaffner vorbei und informierte die Reisenden, dass eine Weiterfahrt unmöglich war. Britische Bomber hatten die Gleisanlagen derart zerstört, dass die Reparatur mehrere Tage in Anspruch nehmen würde. Die Mitarbeiter der Reichsbahn arbeiteten mit Hochdruck daran die Lokomotive mit neuem Wasser und Koks zu versorgen um sie anschließend umzusetzen, damit der Zug die Fahrt nach Bochum zurück aufnehmen konnte.

Die Mittagssonne brannte auf die Waggons, Gretes kleine Familie und die anderen Fahrgäste warteten in der kleinen Bahnhofshalle und die helfenden Hände der Schwestern der Bahnhofsmission verteilten Essen – Bohnensuppe.

Drittes Kapitel

Bagration, oder das Ende aller Hoffnung

Grete wartete wie immer geduldig morgens an der Brotausgabe, fummelte ihre zerknüllten Lebensmittelmarken heraus, als ihre Nachbarin sie ansprach, dass gestern bei ihr ein Telegramm für sie abgegeben wurde. Es waren Nachrichten aus Holland von ihrem Schwiegervater. In den knappen Zeilen klang es eher wie ein Befehl, als eine Bitte, dass Grete mit den Kindern sich „zeitnah in die Grüne begeben“ möge. „Wir kommen nach“, stand da. „Alles weitere später.“ Das sind so Sätze, die mehr Fragen aufwerfen, als beantworten. Grete war unruhig. Vorn Fritz hatte sie seit dem Winter auch noch nichts gehört. Die Post aus dem Feld kam eh spärlich. Nun dieses komische Telegramm aus Holland. Was das wohl alles zu bedeuten hatte? Grete überlegte wie sie es realisieren konnte in die Grüne zu kommen. Von Bochum nach Dortmund, von Dortmund nach Lethmate und dann zu Fuß die restlichen Kilometer in die Grüne. Irgendwie musste es ja gehen. Mit dem Mischbrot unter dem Arm hastete sie in Richtung Oberstraße zurück zu ihren Kindern. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken. Ich muss Fritz schreiben, dachte sie. Ein Brief muss auch an Emmi, die in der Grüne „einhütete“ und die Tiere versorgte. Emmi war die Tante ihres geliebten Fritz, sie war in diesen Zeiten die gute Seele der Familie. Emmis Mann war vor kurzem verstorben, und so war es an ihr die Ländereien am Grüner Bach zu bewirtschaften, während die restliche Familie entweder in Holland ihren Dienst tat, oder aber im Krieg war. Fritzens jüngere Schwester Ilse war auch mit in Holland, sie sollte dort Jugendpflege lernen. „Muss ich noch den Wuppertalern schreiben?“, überlegte sie kurz, doch verwarf den Gedanken schnell. „Die Wuppertaler“ war eigentlich eher ein Schimpfwort, wenn sie über den Rest ihrer eigenen Familie nachdachte. Früher, als ihre Eltern noch lebten, da hatten sie eine erfolgreiche große Schlachterei in Elberfeld. Nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern hatte Gretes Vormund das vollendet, was die große Weltwirtschaftskrise nicht schaffte, und den ganzen Laden ruiniert. Gretes Schwester hatte sich im Winter das Leben genommen, weil sie den Befehlen des Führers nicht mehr folgen wollte. Was blieb war ein Haufen Tanten und Cousins. Nein, die Grüne war schon lange Ihr zuhause geworden.

Der Sommer im Jahr 1944 war ein besonderer, irgendwie für Grete ein besonders komischer, vielleicht der schrecklichste in ihrem Leben, aber das wusste sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Die Amerikaner und Engländer waren letzten Monat in Dünkirchen gelandet. Irgendwie schien das alles mit dem Krieg immer sinnloser zu werden. Von Fritz gab es immer noch keine vernünftigen Neuigkeiten. Letzte Woche war sie im Kino und hatte die eine Wochenschau gesehen, aber auch da wurde nicht viel über die Ostfront geredet, es war zum verrückt werden. An der Bäckerei hatte sie gehört, dass es ein feiges Attentat auf Adolf Hitler gegeben hätte. Schon komisch, einige waren erleichtert, dass der Attentäter gescheitert war, aber bei anderen Freunden hatte sie durchaus das Gefühl, dass die es schade finden, dass es nicht geklappt hat. „Jetzt bekommen wir richtig das Fell voll“, sagte Opa Wolinski aus dem dritten Stock. Wolinski war alter Zechenarbeiter, seine Eltern waren vor vielen Jahren aus Schlesien ins Ruhrgebiet gekommen. Und „Opa“ wusste was Krieg ist, hatte er doch damals schon den ersten Weltkrieg mitgemacht. „Glaube mir Gretel“, sagte er “ die erzählen uns nur die Hälfte der Wahrheit und schicken uns alle zum Teufel. Das war damals genauso.“ Grete beunruhigte die Situation. Was war, wenn Opa Recht behielt? War die Front im Osten vielleicht schon zusammengebrochen? Nein, sie wollte sich nicht in Depressionen verlieren.

Im Osten lief unterdessen das an, was die Russen unter dem Begriff „Bagration“ zusammenfassten, eine Begradigung des Frontverlaufes. Doch diese Begradigung war der schlimmste Alptraum für die 36. Infanteriedivision, die sich versuchte in der westlichen Ukraine einzugraben.

Fritz wurde von einem lauten Geräusch unsanft aus dem Dämmerungsschlaf gerissen. Krome bretterte mit seinem Krad in die Stellung. Er kam eben vom Stab und hatte die letzten Neuigkeiten parat. Fritz schnappte sich sein Gerödel von der Ecke des Feldbettes, zupfte sich die Uniform zurecht um wenigstens halbwegs wie ein Vorgesetzter zu wirken, während er seine Meldung in Empfang nahm. Kaum hatte er den letzten Knopf gerichtet, da stolperte sein Adjutant ins Zelt um die Ankunft Kromes zu melden. Er schlug die Hacken zusammen, riss den Arm hoch und schrie „Heil Hitler, Herr Oberleutnant, melde gehorsamst Kradmelder Obergefreiter Krome ist zurück.“ „Man, man, verschonen sie mich mit dem Scheiß“, knurrte Fritz ihn an. „Besorgen Sie Krome und mir lieber einen heißen Tee“, das war alles was Fritz dazu zu sagen hatte, und er kommentierte den Auftritt seines forschen Adjutanten noch mit einer wegwischenden Handbewegung, als hätte er eine Fliege vor dem Gesicht.

Die beiden Männer saßen im schummrigen Licht des Zeltes und fixierten einander. Schweigen war eine gute Form der Kommunikation. Krome holte ein paarmal tief Luft ehe er anfangen wollte zu reden. Fritz wusste, dass nichts Gutes bei diesem Gespräch herauskommen würde. „Komm‘ schon Krome, raus mit der dreckigen Wahrheit“, ermunterte Fritz seinen Kradmelder. Krome begann in seiner Tasche ein paar Papiere heraus zu fummeln. „Ich habe sowas wie einen Marschbefehl und eine Karte, Herr Oberleutnant. Was da drin steht wird ihnen nicht schmecken.“, sagte Krome leise, und schob dabei seine Kopfbedeckung ein wenig nach hinten, um sich alsbald mit einem fast schwarzen Taschentuch die Stirn abzuwischen. Er schob die Unterlagen langsam über den Tisch. Fritz nahm sich zuerst die Lagekarte, faltete sie vorsichtig auf und breitete sie auf den Tisch aus. Skeptisch betrachtete Fritz die vielen roten Striche mit Bleistift, die Anmerkungen zu Truppenstärke und zu den Truppengattungen der feindlichen Verbände. „Bagration“ war in Druckbuchstaben über die Skizze geschrieben. Sein Blick hob sich langsam und sein verwirrter Blick traf Krome. Mit dem Zeigefinger tippte er auf das Wort und fragte: „Krome, was zur Hölle heißt das?“

Die Antwort kam nicht wie aus der Pistole geschossen, sondern mit einigem dramatischen Schweigen vorher. „Die sagen, dass die Russen eine Offensive planen. Es soll morgen, oder so losgehen. Frontbegradigung bis hinter den Bug, so glauben die.“, murmelte Krome kaum verständlich. Fritz kräuselte die Stirn, weil er noch nicht ganz begriffen hatte was das nun hieß. Der letzte Befehl war ‚Eingraben, Stellung halten!‘, dies sah nun eher nach einem drohenden Marschbefehl aus. Krome ergänzte, dass er unter der Hand gehört habe, dass die Bolschewisten mit Maus und Mann im Norden schon gegen die Front rennen. T34 vorneweg mit Vollgas und dann in mehreren Reihen Menschenmassen, die alles Niedermähen, die gefürchteten Stalinorgeln, eine jämmerlich heulende Raketenwerferbatterie, schießen den Weg frei. Wenn das Szenario auch hier im Süden drohte, dann gute Nacht Marie.

Die Trossfahrzeuge waren lange nicht alle einsatzbereit, die Geschütze konnten unmöglich mitgenommen werden. Es war schwer in diesen Zeiten Ersatzteile zu bekommen. Was nicht durch feindlichen Beschuss in den letzten Monaten mürbe geworden war, das segnete durch Verschleiß das Zeitliche. Fritz rieb sich die Stirn. „Denk nach, verdammt, denk nach!“, zwang er sich. Er blickte zu Krome. Dann schrie er nach seinem Adjutanten, dass er sofort alle Unteroffiziere zusammentrommeln soll. In der Zwischenzeit fummelte er das Schriftstück auseinander und begann zu lesen. Krome schlürfte seinen Tee dermaßen laut, dass Fritz ihm einen Blick zuwarf der so kalt war, dass der Tee sofort hätte gefrieren müssen. „Reißen sie sich zusammen, Mann.“, zischte er. Fritz las so konzentriert, dass er zwischendurch einige Worte unbewusst laut aussprach. Stab verlegt hinter den Bug, war zu hören und in einem Halbsatz „Abrücken und Stellung hinter den Bug verlegen.“ Der Rest war Gemurmel.

Fritz wurde nun klar, dass die Stuka, die er letztens gesehen hatte wirklich in Richtung Front unterwegs waren um gegen Panzer vorzugehen. Es waren aber nicht hunderte Flugzeuge wie zu Beginn des Feldzuges gegen Russland, sondern ein paar Flugzeuge. „Nun, wenn die hier über uns fliegen, dann kommen die Bolschewisten bestimmt über Kowel um entlang der Straße nach Lublin durchzustoßen.“, dachte er halblaut. Fritz rechnete, und schob einen kleinen zerkratzten Maßstab über die Karte. „Hm“, brummte er. „Es sind ca 160 Kilometer von Kowel nach Lublin. Wir müssen nach Lublin. Von hier in Hodowice sind das bestimmt 100 Kilometer.“ Die Stellung in Hodowice einem kleinen Örtchen an der Verbindungsstraße lag ungefähr auf der Hälfte der Strecke zwischen dem ehemaligen Grenzverlauf am Bug und der großen Stadt Kowel. Diesen ungastlichen Ort hatten sie vor zwei Wochen geordnet verlassen. Verbrannte Erde zurückgelassen, so wie es befohlen war. Die Russen sollten ins Leere laufen, ihr Nachschub sollte die Versorgung regeln. Vor Ort jedenfalls würden die Bolschewisten nichts zu fressen finden, dachte sich Fritz. Nun scheint es, als wenn sie sich da sammeln und diese Bagration vorbereiten.

Fritz schaute in die Augen seiner Unteroffiziere die mittlerweile den Unterstand betreten hatten. Er blickte sie an, als hoffte er, dass sie Gedankenlesen könnten und er ihnen seine Gedanken gar nicht mitteilen müsse. Doch die Männer blickten nur fragend zurück. „Meine Herren, die Russen sammeln sich bei Kowel und bereiten einen Stoß bis zum Bug vor.“, begann er. Es folgte eine Pause. „Machen wir uns nichts vor, es wird nicht leicht. Wir müssen irgendwie schnellst möglich hinter den Bug. Dabei bleibt zu hoffen, dass die Brücken vor Chelm noch stehen. Zur Not krabbeln wir mit unserem Kram über die Eisenbahnbrücke. Wir haben den Befehl beide Brücken zu sprengen. Unangenehm ist dabei, dass der Termin für die Sprengung übermorgen Abend um 18.00 Uhr ist.“, begann er seine Ausführungen. Unsichere Blicke wurden gewechselt. Schulte, ein grauhaariger erfahrener Mann aus Soest fragte vorsichtig nach: „Herr Oberleutnant, mit Verlaub, wenn wir hier alles abrüsten, was bestimmt bis morgen früh dauert, und dann los sollen, dann haben wir in knapp 40 Zeitstunden 100 km Fußmarsch vor uns, mit Männern, die nicht geschlafen haben. Wie soll das gehen? Wenn wir 8 Stunden Rast einkalkulieren, so plus minus, dann ist das kaum zu schaffen, oder?“ Fritz blickte Schulte nachdenklich an. „Ja, das wird haarig, zumal wir auf niemanden warten können. Wer zu spät kommt der muss schwimmen.“, schob er nach.

„Machen wir uns nichts vor Männer. Ein T34 kann auf dieser Straße fast 50 Kilometer in einer Stunde fahren. Wenn die Russen einmal in der Stunde stoppen um die Infanterie nachzuholen, dann rennen die uns über den Haufen.“ knurrte Fritz die Männer an. Es war ja schlecht möglich die Straße weg zu sprengen. Nein, dachte Fritz, wenn wir jetzt hier Lärm machen, dann bekommen die russischen Fernaufklärer das mit und stecken uns im Handumdrehen in die Tasche. „Nein, meine Herren“, begann Fritz seine Ansprache, „wir schlafen gleich ein paar Stunden. Vorher wird alles gepackt, was wir für 2 Tage an Verpflegung brauchen, dann rücken wir in der Dunkelheit leise ab. Wir lassen alles hier, was uns bremst. Wir müssen nicht darüber nachdenken wie wir uns gegen diese Übermacht verteidigen, sondern es geht hier um das nackte Überleben.“ Alle wussten zwar was ihnen bevor stand, aber keiner konnte sich ausmalen, was in den nächsten Tagen wirklich passieren würde.

Krieg ist immer grausam, aber die Lage der Männer in diesem Frontabschnitt war nur mit einem einzigen Wort zu beschreiben, sie war aussichtslos. Flaches Gelände, eine Bahnlinie und eine Straße, die kilometerlang nur schnurgeradeaus führte, war zur Flucht zu Fuß denkbar ungeeignet. Für die Jäger, mit ihren schweren Panzern aber war sie ideal. Zwei Divisionen lagen zwischen Kowel und dem Bug. Knapp 60000 Soldaten der Wehrmacht. Erschöpft von fünf Jahren Krieg. Sie waren nicht nur Männer, sondern auch Väter von Kindern und Ehepartner. Die Analyse von Fritz war richtig, wenn sie heute Nacht aufbrechen, dann ist es knapp, aber zu schaffen. Eines durfte aber auf keinen Fall passieren. Die Russen durften nicht vor Morgen Mittag loslegen, denn sie brauchen einen Vorsprung. Fritz dachte an seinen Vater, dem man nachsagte, dass er seine Frau mit Schuhen bezahlt hatte. Der war doch damals tatsächlich von der Grüne immer zum Großendrehscheid hinter Altena gelaufen um seine Liebste zu besuchen. Das waren zwar nur 12 Kilometer Luftlinie, aber sein Vater war hin und zurück immer einen ganzen Tag unterwegs. Insgeheim wünschte Fritz sich nun diese Bedingungen im Gelände. Anstrengend zwar, aber sicher vor feindlichen Panzern, die in bergigem Gelände viel langsamer vorankommen würden.

Die Männer hatten ein Ziel, das war der mächtige Fluss Bug, die Männer hatten einen Wunsch, der war es zu überleben. Die hatten einen Plan, der war gut durchdacht. Sie waren motiviert bis in die Haarspitzen. Sie brauchten verdammt viel Glück, und es musste alles passen. Das einzige, was die Männer nicht wussten, als sie den Unterstand verließen um ihre Sachen zu packen, war die Tatsache, dass sie keine Chance hatten. Sie waren bereits umzingelt und verloren. In den kommenden zwölf Stunden verloren fast 60000 Mann ihr Leben. Niedergemetzelt auf einer Flucht, die in fast keinem Geschichtsbuch zu finden ist.

Viertes Kapitel

Telegramm des Schicksals

Grete hatte ihren Versuch nach Holland zu kommen noch nicht verdaut. Zusätzlich schwebte noch das letzte Telegramm ihrer Schwiegereltern wie ein Damoklesschwert über ihr. Täglich wühlten die Gedanken um die Kinder, und dass das Leben hier im Ruhrgebiet viel zu gefährlich geworden war. Sie brauchte endlich Gewissheit und eine Entscheidung, was nun zu passieren hatte. Sie wollte raus aus dem Ruhrgebiet. Am Besten in den Süden. Weit weg von der Front. Ein Telegramm nach Holland konnte Sicherheit bringen. Vielleicht hatte ihr Schwiegervater schon was erreichen können. Immerhin, er hatte Einfluss. Er kannte viele Gauleiter und Jugendhilfeträger, die sich schon um die Kinder kümmern würden. Nur ohne die persönliche Absprache war wenig zu wollen. Also schnürte Grete an diesem Montagmorgen ihre alten Stiefel, nachdem sie mit den Kindern die letzten Lebensmittelreserven aufgebraucht hatte und ging in Richtung Postamt. Hunger und Verzweiflung waren schon lange Hoffnung und Zuversicht gewichen. „Irgendwie müssen wir hier weg“, dachte Grete, während sie über die schuttbedeckten Straßen in Richtung Post schlich. Erst Anfang 40, aber den Gang einer alten gebrochenen Frau. Solche Gedanken schossen ihr durch den Kopf, wenn sie monoton einen Fuß vor den anderen setzte und Schritte zählte, damit der Weg nicht so weit war.

Sie erreichte das Postamt endlich und ihr erster Gedanke, als sie den Haufen Steine und Schutt sah, sollte sich bewahrheiten. Hier war nichts zu wollen. Ein freundlicher Postbeamter stand mit einer Schaufel in der Hand an der Stelle, wo bis vor einigen Tagen noch das prächtige Eingangsportal seine Gäste empfing. „Ne, das tut uns leid, verehrte Dame, aber wir machen die Post nur noch über Poststelle Zentrum, hier ist erstmal Aufräumen angesagt. Wer weiß, wie lange das dauert, bis die Kabel alle wieder an Ort und Stelle sind, wo die hingehören. Leider sind die ganzen Techniker im Einsatz für das Vaterland, und die Pensionäre, die den Notdienst betreuen sind seit Tagen überlastet.“

Mit gesenktem Haupt schlich Grete wieder in Richtung ihrer Kinder. „Es hätte ja mal was klappen können“, murmelte sie schon fast melodisch vor sich hin. Immer wieder und wieder, als wenn es der Selbsthypnose dienen sollte. Die Hände nestelten in ihrer Tasche an ein paar alten Lebensmittelmarken herum. Der Hunger kam wieder hoch. Hatte sie doch heute Morgen den Kindern das letzte Essen gegeben. „Eine Mutter kann immer verzichten“, zischte sie zwischen den zusammengepressten Lippen hervor und drückte durch die Jacke hindurch mit beiden Händen kräftig auf ihren Bauch um sich von den Bauchschmerzen abzulenken.

Auf halber Strecke fasste Grete den festen Entschluss doch die Kinder schnellstmöglich einzupacken und in die Grüne zu fahren. Es würde da auch dauern bis die Schwiegereltern nachkämen, aber eine Entscheidung zu „irgendwann“ ist immer besser als keine Entscheidung. In der guten alten Grüne ist bestimmt noch alles intakt und die gute Emmi, hätte bestimmt ausreichend zu essen. Außerdem ist das Postamt in der Grüne bestimmt intakt, sodass sie ein Telegramm nach Holland absetzen könne, um den Schwiegereltern Bescheid zu geben, dass sie angekommen ist.

Die Erniedrigung, dass sie mit ihrer Familie im Schoss der Schwiegereltern Zuflucht suchen musste wurmte sie sehr. Sie war stolz eine Mutter zu sein, und sie war sehr stolz eine eigene, mehr oder weniger intakte kleine Familie zu haben. Aber die Widrigkeiten des Krieges zwangen sie zur Einsicht. Außerdem ging es dabei um das Wohl der Kinder. Die Kinder waren alles was sie hatte. Also packte sie in Gedanken schon zwei Koffer. Sie packte diese Koffer wohl ahnend gründlich, denn es war kein Packen für eine Reise, sondern ein Abschied für längere Zeit, dachte sie.

Kaum, dass Grete zuhause angekommen war begann sie zu packen. Nichtsahnend, dass es nicht für eine lange Zeit sein sollte, sondern es würde ein Abschied für immer sein.

Warm und beschwerlich war die Zugfahrt in die Grüne. Mittags um eins stand Grete mit ihren Kindern alleine am kleinen Bahnhof von Oestrich, nahe der berühmten Dechenhöhle. Sie schaute sich um – Menschenleer. Weit und breit war niemand zu sehen, als der Zug pfeifend und schnaufend in Richtung Iserlohn weiter fuhr. Das kleine Zahlhäuschen zur Höhle, wo normaler weise um diese Uhrzeit hunderte Menschen auf eine Eintrittskarte warteten, war spärlich mit Brettern verrammelt. Grete schob die Koffer auf den Kinderwagen und setzte Trutzhard oben auf. Margret hatte Gisela an der Hand, die neugierig in die Gegend glotze und eigentlich mehr stolperte als gerade aus lief.

Warum musste das Haus der Schwiegereltern auch nur so weit oben liegen, dachte Grete bei sich. Der Kinderwagen quietschte und schrie unter der ungewöhnlichen Belastung durch die Koffer. Trutzhard thronte oben auf dem ganzen Stapel und saß rittlings auf dem Koffer. An den Schnallen hielt er sich fest und schlug in regelmäßigen Abständen die Hacken an die Seite und spornte seine Mutter mit einem „Hüa, schneller doch!“ an.

Das Grüner Tal schien endlos. Die Mittagssonne brannte unerbittlich. Hartmut schrie schon seit dem Bahnhof vor Hunger und Magret wirkte in ihrem gebeugten Gang eher wie eine alte Witwe, aber nicht wie ein Kind, dass bald 10 Jahre alt werden sollte.

Ihr Weg führte sie vorbei an vielen kleinen Betrieben, die das Tal seit über einhundert Jahren einrahmten. Buntgießereien, Zink war hier vor vielen Hundert Jahren schon abgebaut worden, und vor allem Drahtziehereihen. Der kaltgezogene Draht aus der Grüne war im gesamten Reich bekannt. Auch Dünnbänder aus Federstahl wurden hier gezogen. „Die beste Feder lieber Sohn, ist die von Brause Iserlohn“, murmelte Grete. Aber die vielen Schornsteine rauchten nicht. Nur bei den Firmen in welchen Rüstungsgüter hergestellt wurden waren vereinzelt die Öfen an, und die Produktion lief auf Hochtouren. Meist standen nun wohl Frauen an den Werkbänken, wo vor wenigen Jahren noch Schmiede und Schlosser ihre Arbeit taten. Vereinzelnd entdeckte Grete Barracken, die von Wehrmachtssoldaten bewacht wurden. Wohl für Zwangsarbeiter, dachte Grete bei sich. Naja, besser so, als tot. Grete dachte wieder an ihren Fritz. „Verdammt, den Brief habe ich immer noch nicht geschrieben.“, sie nahm sich das Schreiben des Briefes für den morgigen Abend vor.

Nach einer Stunde Fußmarsch und stumpfem Gequietsche der Räder machen die Vier eine kleine Pause an einer zugänglichen Stelle am Grüner Bach. Nur ein wenig die Füße kühlen und einen Moment im Schatten verweilen. Grete blickte abwechselnd ins Wasser, das munter vor sich hin tänzelte und auf die lange Straße zu ihrem Ziel. Die Siedlung hatten sie lange hinter sich gelassen. Noch ein Drahtwerk, dann das alte Forsthaus in dem seit einigen Jahren eine Schankwirtschaft war und dann waren es nur noch ein paar hundert Meter.

Emmi saß mit ihrer Schwester Ida auf der Bank vor dem Schweinestall und staunte nicht gerade schlecht, als Grete mit ihrem quietschenden Gespann um die Straße hoch kam. Es dauerte einige Zeit, bis Erstaunen und Entsetzen über den spontanen Familienzuwachs der Neugier wich. „Mensch Grete, setz Dich erstmal. Ich mach n Kaffee“, sagte Ida freudig. Die Einladung zum ‚Kaffee‘ war für Grete was Wunderbares. Natürlich war es Malzkaffee, den Ida aufbrühte. Echten Bohnenkaffee hätte Ida wohl nur am Sonntag gekocht, oder wenn der Führer zum Geburtstag vorbei geschaut hätte. „Kinder, ihr sehr ja halb verhungert aus“, rief Emmi erstaunt und kniff Magret dabei in die Wange wie das Tanten eben so tun. Ich mach Euch erst mal ein Bütterken. Sie ging die steile Treppe zum Dachboden hinauf, wo der alte Räucherofen stand. Dort hingen immer ein paar Stücke Speck, Dauerwurst und etwas Schinken. Drei Mal im Jahr wurde im Haus ein Schwein geschlachtet, und alles was haltbar gemacht werden musste, hing hier oben im Kaltrauch. Das alte Gemäuer sorgte das ganze Jahr über für gleichbleibende Temperaturen, sodass die Lebensmittel nicht verdarben.

Die beiden Mädchen konnten beim Essen ihren Hunger kaum verbergen, sie schlangen das Brot fast ohne es zu kauen. Grete hatte sich eine Scheibe an die Seite gelegt und trank erst einmal den warmen Kaffee. Emmi schob ihr eine Zigarette rüber. Grete nahm einen tiefen Zug und als sie ausatmete, fühlte es sich an, als wenn die ganze Last von ihren Schultern abfallen würde.

„Na, nu verzähl mal erst Diern“, animierte Emmi. „Warum seid ihr hier? Gibt es was Neues von Fritz?“ Grete schwieg kurz, dann begann sie die ganze Geschichte zu erzählen. Von dem Brief, den sie schon lange schreiben wollte, von den Fliegerangriffen in Bochum, ihrer missglückten Reise nach Holland, dem Telegramm von „Oppa“ und von dem Hunger und der Not welche die kleine Familie in den letzten Monaten erlebt und erlitten hatte. Grete erzählte auch von der zerbombten Hauptpost, und dass sie mit ihren Schwiegereltern telegrafisch in Kontakt treten wollte über das alte Postamt in der Obergrüne. Die beiden Schwestern lauschten gespannt. Die Mädels spielten mittlerweile vergnügt an dem Bach und die Jungs schliefen tief und fest in der Stube, in dem weichen Federbett ihres Großvaters.

Die drei Frauen waren sich schnell einig, dass es die richtige Entscheidung war in die Grüne zu kommen. Endlich Ruhe!

Fünftes Kapitel

Steckrübenmus und Trauer

In der Nacht zum 15. Juli 1944 saß der Adjutant von Fritz in der Kommandantur in Lublin auf einem Hocker an einem alten Schreibtisch. Vor sich lag eine Art Postkarte. „Verlustmeldung“ stand darüber. Er kämpfte mit den Tränen. Keine Ahnung, welche persönlichen Worte er für Grete finden sollte. Die Eindrücke der vergangenen 48 Stunden waren zu schlimm. Das erlebte Elend wird für viele Menschenleben gereicht haben, aber leider musste ein einzelner Mann nun für die gesamte Abteilung diese Karten schreiben. Er war schließlich der einzige Überlebende von 130 Mann aus der Stellung bei Hodowice.

„Sehr geehrte Frau Schweitzer, ich bedaure Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Gatte Oberleutnant Fritz Schweitzer, gestern im Kampf um das Vaterland gefallen ist. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die Offizierskiste mit allen persönlichen Sachen beim Beschuss der Trossfahrzeuge vor Lublin verloren gegangen ist.“

Hatte er sich je schlechter gefühlt? Nein, nichts konnte schlimmer sein, als diese Zeilen zu schreiben. Treue für seinen Oberleutnant, das war sein einziger Lebenszweck in den vergangenen Jahren. Nun war sein „Chef“ gefallen. Der Körper irgendwo in der aufgewühlten Erde in der Ukraine. Er erinnerte sich nur noch an den kurzen Schrei, den er vernommen hatte als sie versuchten am Rande der Hauptstraße auf einen LKW zu springen. Schlimm, dieses Gefühl der Machtlosigkeit nichts für die zurückgebliebenen Kameraden tun zu können. Jetzt, in der Kommandantur in Lublin, da versuchte er sich eine Vorstellung von den Zahlen der letzten Stunden zu machen. Weniger als 1000 Mann waren übrig geblieben. Eine komplette Stadt an Menschen einfach so ausgelöscht. Überrannt von den verfluchten Bolschewisten. Die werden keine Gefangenen gemacht haben. Für so ein Theater werden die keine Zeit gehabt haben, dachte er bei sich. Wahrscheinlich haben die alles, was noch zuckt mit Bajonetten abgeschlachtet wie Schweine. Nun saß der Mann wortlos in der Baracke der Kommandantur und starrte die Wand an. Seine letzte Pflicht hatte er getan. Das war alles, was er noch an Kraft hatte. Das war das Letzte, was er diesem Land und diesem Führer geben konnte und wollte. Sein Körper hatte aufgehört zu funktionieren. In seinem Kopf sah er nur noch Blut und hörte Schreie. Schreie von Freunden und Kameraden, die er in den vergangenen Stunden verloren hatte. Erst am späten Abend kam eine Rot-Kreuz Schwester und führte den weinenden und zitternden Mann in ein Hospital.

Irgendwo in der Westukraine nahe des Flusses Bug lag ein kleiner Bleistiftstummel im blutigen Gras. Er war abgebrochen!

Grete war an diesem Morgen schon früh unterwegs. Sie ging das Tal hinauf um beim Bauern ein paar Kartoffeln zu stoppeln. Am Ende des Tales, wo es wieder nach Ihmert abwärts ging, lagen große Höfe, bei denen es bestimmt noch etwas zu holen gab. Emmi hatte 2 Steckrüben aus dem Keller geholt und die Schweinebacke kochte schon, damit es einen kräftigen Sud geben möge. Die beiden Schwestern kamen gar nicht damit klar, wie grausam der Krieg zu Kindern sein konnte und gaben nun alles, damit die Kleinen wieder zu Kräften kommen würden. Es sollte der Tag werden an dem eine Postkarte aus Lublin in die friedliche Stille des Grünertals einschlagen sollte wie eine Bombe in ein Krankenhaus. Der Postbote kam heute nicht pünktlich und zuverlässig wie immer um die Mittagszeit. Die Post kam Heute mit einem grauen Kübelwagen und zwei Soldaten. Sie hatten einen Brief für Grete dabei, denn die Karte steckte in einem Umschlag des Wehrbereichskommandos. Natürlich war die Karte, die Fritzes Adjutant geschrieben hatte an die Bochumer Adresse gegangen, sodass das Militär die Heimanschrift des Gefallenen als nächstes aufsuchte. Es war ein dicker Umschlag.

Grete kam spät nach Hause, sie hatte erfolgreich ein paar kleine Kartoffeln gestoppelt. Das wie Leder gegerbte Gesicht grinste von einem Ohr bis zum anderen, als sie auf den Hof kam. Emmi saß auf der Bank, während Ida in der Küche einen Kaffee vorbereitete. „Komm man her“, sagte Emmi zu Grete und zog sie auf die Bank. „Zwei Kettenhunde von der Kommandantur haben hier Post für dich abgegeben, ich glaube wir müssen jetzt ganz stark sein.“

Wenn man versucht sich die Gedanken von Grete in diesem Augenblick vorzustellen, dann kann man sich nur die größte Katastrophe vorstellen, die einem selbst widerfahren kann. Grete hatte schon viel verloren in ihrem Leben. Die Eltern, das Elternhaus, Geld und Habe. Aber nun den Mann, die Zukunft und die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Sie fummelte den Umschlag auf. Darin war die Karte. Mit Bleistift geschrieben, Alles, was sie wirklich aufnahm waren die Worte „Grablage unbekannt“ und „…die Offizierskiste… verloren“. Waren es nun wirklich nur die Briefe und die Zivilkleidung, die ihr von ihrem geliebten Fritz geblieben waren? Ihre Augen, die eigentlich immer freundlich und warm schienen, wurden auf einen Schlag von der Trauer leergesaugt. So, als wäre auf einmal alle Liebe aus ihr gewichen.

Sie nahm den zweiten Schrieb aus dem Umschlag. Es war eine Beförderungsurkunde. „ Hiermit befördere ich … wegen seine großen Verdienste ums Vaterland, den Oberleutnant Friedrich Schweitzer posthum zum Hauptmann“, las sie halblaut vor.

Ida wischte sich den Kochlöffel in der Schürze ab und murmelte „Naja, gut. Gibt deutlich mehr Witwenrente. Haste mehr als ich dann.“ Emmi knuffte ihr den Ellenbogen gegen das Knie. Grete nahm einen großen Schluck Kaffee, schaute von unten zu Ida hoch und murmelte nur „Stimmt auch wieder. Hat einer noch `ne Zigarette?“

Im fahlen Licht des Esszimmers saß die Familie abends zusammen und aß. Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber weil die Stube in Hanglage war, tauchte das einfallende Licht alles in ein fahles grau. Es war kein Ton zu hören, die Kinder aßen leise, Grete fütterte Hartmut. Die Bewegungen ihrer Hände und Arme erinnerte dabei etwas an die Arme eines Baggers, nicht aber an die Arme einer Mutter, die liebevoll ihr Kind füttert, sie funktionierte einfach. Grete wusste auch nicht sicher, ob sie wirklich Hunger verspürte.

Die drei Frauen hatten vorher besprochen, dass sie den Kindern vorerst nichts sagen wollten. Trotzdem spürte man die Stimmung. Fragende Blicke liefen ins Leere, und selbst die typischen Schmatzgeräusche von Trutzhard blieben ohne Ermahnung. Jetzt musste Grete dringend das Telegramm nach Holland schicken. Das war ihr einziger Gedanke in diesem Moment. Die Schwiegereltern würden bestimmt früher kommen, und ihr Schwiegervater würde eine Lösung für sie und die Kinder finden. Grete fühlte sich elendig, die wollte nur noch weg. Weg von hier, weg von den Kindern, weg aus diesem Leben.

Ankunft und Abfahrt

Vier Tage waren vergangen, seit Grete die schlechte Nachricht von Fritz erhalten hatte. Es fühlte sich an, als wären alle Lebensgeister aus ihr gewichen. Sie saß oft nur teilnahmslos da und versuchte nicht permanent in Tränen auszubrechen. „Die Kinder dürfen nicht merken wie schlecht es uns geht“, sagte Grete zu Emmi. Doch es viel ihr von Stunde zu Stunde schwerer die Wahrheit zu verbergen. Grete saß in der Mittagssonne vor dem Stall, als Emmi ihr berichtete, dass die Omma und Oppa aus Holland kommen würden.

„Guck Liebes, der Postmann hat eben das Telegramm gebracht“, begann Emmi das Gespräch. „Schwiegereltern kommen morgen, wir sollen uns von Otte das Pferdegespann borgen“, informierte Emmi die müde Grete. Ein mattes Brummen war ihre Antwort. „Diern, riet di mal tosamen“, motzte Emmi auf tiefstem Sauerländer Platt. Grete hob den Kopf und nickte. Nach ganz kurzer Zeit kam Ida mit einer Kanne Kaffee aus dem Fachwerkhaus geschritten und sie hatte auch eine Packung Zigaretten im Gepäck. Ja, ein „Schmök“ und etwas Koffein half den Frauen beim Denken. „Wenn die Schwiegereltern morgen kommen, dann muss ja wer zu Otte um zu fragen ob wir das Gespann haben dürfen.“, warf Grete als erstes ein. Ida nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, nahm gurgelnd einen Schluck warmen Kaffee und meinte: „Kunn dien Diern dat ni maaken?“ Margret spielte unten am Bach mit Gisela, wahrscheinlich bauten die beiden wieder eine Staumauer um dann in dem „See“ eine Forelle zu greifen. Grete blökte über die Hofstelle, so dass sie unvermittelt husten musste. Magret ließ auf sich warten, aber sie schlich die steile Hofeinfahrt rauf. Grete steckte sich eine Zigarette an und begann Margret zu instruieren. Äußerst widerwillig zuckelte die Kleine die Grüner Talstraße hinauf. Otte war der nächste Nachbar nach oben hin. Kriegsversehrt konnte er mehr schlecht als recht seinen kleinen Hof bewirtschaften.

Die Frauen baldowerten sich nun aus, wer denn morgen zum Bahnhof nach Lethmate fahren sollte und wer dann das Essen vorbereiten sollte, und – doppelt wichtig – was es geben sollte. Buchweizengrütze war ja wohl nicht das richtige Festessen um den Hausherren zu empfangen. Also war klar, es sollte Fleisch geben. Schweinebacke und Frühkohl waren die Frauen sich einig. Kartoffeln waren ja noch ausreichend von Gretes Ausflug da.

So eine frische Tasse Kaffee und eine Zigarette dazu bewirken wahre Wunder, wenn man Ideen und Kreativität braucht, wenn der ganze Kopf völlig vernebelt ist. Emmi wusste schon genau, dass es jetzt Zeit war den Plan mit einem Gläschen Weinbrand zu besiegeln. So schlurfte Emmi dann in ihren Holzpantinen in Richtung des alten Küchenbuffets, das einmal zur Aussteuer von Omma vom Großendrehscheid gekommen war, und zog unten die leicht staubige Flasche Weinbrand hervor. Kurz und knapp wurden die Rollen verteilt. Emmi wusch weiß morgen früh, Grete sollte mit Margret nach Lethmate und Ida passt auf die Kinder und bereitet das Essen zu. Die Fleißarbeiten wie Kohl- und Kartoffeln schneiden machen die Frauen nach dem Frühstück gemeinsam. Grete sollte auch etwas Geld mitnehmen und versuchen in der Untergrüne beim Krämersmann etwas Tabak für Oppa und ein paar Zigaretten zu bekommen. An der Mühle konnte sie gleich noch einen Sack Mehl mitbringen. „Aber sag denen, dass du nicht so viel bezahlst wie letztes Mal, denn es waren viele Steinchen im letzten Sack.“, motzte Emmi unter dem Verweis, dass man ja sich an dem Brot nicht die Zähne ausbeißen will.

In der Zwischenzeit war Margret auf die Hofstelle geschlichen und stürzte in Richtung Wall, wo das ganze Jahr über ein frischer Strahl Wasser aus dem Berg kam. Als Margret von oben um den Schweinestall bog wischte sie sich die Schnute vom Trinken mit der weißen Schürze ab, was bei ihrer Mutter sofort die Stirn in Falten legte. „Du kannst morgen auch mit Emmi zur Bleiche runter, dann fahre ich alleine zum Bahnhof.“, maulte Grete ihre Älteste an. „Diern, verklaar, wat hett Otte sacht?“ unterbrach Emmi neugierig. Margret erklärte, dass Otte morgen zum Frühstück mit dem Gespann um 8 Uhr da wäre. Eine Wurst und ein Bier würden ausreichen um den Handel zu besiegeln.

Es hatte Frühtau gegeben diesen Morgen. Träge hingen die Wolkenschwaden in dem engen Tal und die Sonne war schwer bemüht diese Kühle zu vertreiben. Die Frauen saßen an ihrem Graubrot und Kaffee beim Frühstück, während die Jugend noch etwas länger schlafen konnte. Otte kam pünktlich und die Reise in Richtung Bahnhof konnte dann auch zeitig losgehen. Die Zugfahrt aus Holland nach Iserlohn war nichts, was in wenigen Stunden erledigt war. So eine Reise war eine Strapaze. Vierte, oder dritte Klasse, wenn man bequem reisen wollte. Von zweiter Klasse reisen oder gar einer Reise in der ersten Klasse konnte man nur träumen. Grete wartete mit Magret gegen Mittag also am Bahnhof. Bis zur Schule unten im Tal hatte sie Emmi mitgenommen. Da unten war am Grünerbach eine breite Wiese, die gemeinhin von allen als Bleiche benutzt wurde. Ja, die Sonne bleichte die Wäsche. Nass, in klarem Wasser ausgewaschen lag die Wäsche dort einen Tag. Entweder, man bewachte die Wäsche, oder man ließ die Wäsche in Treu und Glauben, dass niemand eines der guten Stücke gebrauchen konnte allein. Emmi wollte erst warten, aber als die Frau von Otte auftauchte wusste sie wohl, dass sie ihre Wäsche heute gut bewacht wusste. Die Frauen handelten aus, dass Emmi sie des Abends mit dem Gespann abholt, ehe das Pferd zum Ausspannen wieder die Grüne hochgebracht wird. Also konnte Emmi schon zeitig wieder den langen Fußweg in Richtung zu Hause antreten.

Grete und Margret saßen auf dem Bock und hatten dem Pferd einen Beutel Hafer umgehängt. Also taten sie es dem Pferd gleich und aßen einen Kanten Brot. Grete aß sowieso immer am Liebsten den Kanten, weil da am meisten Kruste dran war, die diesen typischen malzigen Geschmack hatte. Ja, wenn man lange Zeit Brot ohne Belag isst, dann weiß man kleine Freuden zu schätzen, dachte sie bei sich. So warteten die Beiden auf den Zug. Natürlich kam der Zug dann, wenn der Zug kam. „Heute“ war schon eine relativ genaue Beschreibung. „Gegen Mittag“ war eine ziemlich exakte Beschreibung des Fahrplans. Ja, von Pünktlichkeit musste man nicht reden, man war froh, wenn überhaupt ein Zug fuhr. Die Strecke von Dortmund rauf ins Sauerland machte den alten Dampflokomotiven schon schwer zu schaffen, und auf so einer Nebenstrecke setzte die Reichsbahn natürlich nicht ihre PS starken Neuentwicklungen ein, sondern es fuhren eher Loks, die schon zu Kaisers Zeiten Truppentransporter zogen.

Als dann endlich das tiefe Schnaufen hinter der Kurve zu hören war mische sich zunehmend Angst und Freude in Gretes Kopf. Margret war freilich erfreut, dass sie Omma und Oppa wieder sehen würde aber Grete wusste, dass sie den beiden noch erklären musste, dass deren einziger Sohn im Felde geblieben war, wie es damals hieß.